Die angebliche ethisch-moralische Überlegenheit der Zehn Gebote wird immer wieder als Rechtfertigung für den Einfluss der Religion auf die moderne Gesellschaft heran gezogen. Kaum jemand macht sich jedoch die Mühe, den Bibeltext in Exodus 20 und Deuteronomium 5 anzuschauen – dann bleibt von der angeblichen Überlegenheit nämlich nicht mehr viel übrig. Um der Übersichtlichkeit willen leicht gekürzt findet sich Folgendes:
1. Vorstellung: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
2. Alleinstellung: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
3. Bilderverbot: Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
4. Sippenhaft: Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
5. Missbrauchsverbot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.
6. Sabbat: Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, an ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du.
7. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
8. Du sollst nicht morden.
9. Du sollst nicht die Ehe brechen.
10. Du sollst nicht stehlen.
11. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
12. Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.
Die zwölf Zehn Gebote
Als erstes bemerkt der Leser verwundert, dass die Zehn Gebote keine zehn Gebote sind, sondern vom Aufbau und Inhalt her eigentlich zwölf. Katholiken und Lutheraner haben später durch neues Nummerieren wohl versucht, die peinlichen Stellen etwas weniger zu betonen. In den ersten fünf unserer zwölf Zehn Gebote beschäftigt sich Jahwe in erster Linie mit sich selbst: Es identifiziert sich als Befreier der Juden, pocht auf seine Alleinstellung, bezeichnet sich als eifersüchtig, droht mit Verfolgung von Enkeln und Großenkeln von Atheisten und anderer Falschgläubigen und warnt vor falschen Priestern (also dem Missbrauch seines Namens). Bislang ist von moralischer Überlegenheit nicht viel zu spüren – Also weiter!
Das Sabbat-Gebot ist in der Tat eine Grundlage unserer Gesellschaft und in seiner verlängerten Form als Wochenende heiß geliebt. Interessant ist, dass die Kirchen dieses Gebot während des größten Teils ihrer Existenz ignoriert haben, hier war lediglich der Kirchgang Pflicht. Erst im 19. Jahrhundert kamen – auf Druck der Gewerkschaften – Gesetze zur Einrichtung eines arbeitsfreien Tages pro Woche auf.
Frauen und Esel: Das Eigentum der Männer
Dann folgt der bekannteste Teil, auf dessen angebliche Einmaligkeit und Vorbildhaftigkeit immer wieder eingegangen wird: Die Eltern sind zu ehren (wenn auch mit einer etwas vagen Begründung), andere Gläubige dürfen nicht ermordet oder bestohlen werden, die Ehe darf nicht gebrochen, und Meineide nicht geschworen werden. Zum Schluss wird das Diebstahlverbot bekräftigt, wobei die Frau des Gläubigen zwischen dem Rest seines Eigentums wie Rindern und Eseln eingeordnet wird.
Kein Mord, kein Diebstahl: In jeder denkbaren Gesellschaft zentral – Ob religiös oder nicht
Die zentralen Aussagen dieser Passage (Eltern ehren, nicht morden, nicht stehlen, nicht lügen) sind in der Tat Elemente unseres moralischen Systems. Sie sind aber in keiner Weise originell oder neu oder einmalig: Ganz abgesehen davon, dass keine Gesellschaft – egal welcher religiösen Ausrichtung – denkbar ist, in der ohne Ahndung gemordet und gestohlen werden darf, sind diese Regeln ganz offensichtlich aus dem deutlich älteren ägyptischen Totenbuch (Kapitel 125) abgeschrieben. Darüber hinaus hat fast jede Gesellschaft vor oder unabhängig vom Judenchristentum ein ähnliches System entwickelt – meist in Form der deutlich besser formulierten Goldenen Regel, wie sie u.a. Konfuzius, Buddha, Homer oder Kant aufstellen.
Sklaverei bekommt göttlichen Segen
Nebenbei: Sowohl im sechsten als auch im zwölften Gebot wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Angesprochene Sklavenhalter sei. Sklaverei wird also – wenn auch an dieser Stelle eher implizit – gutgeheißen. Weiterhin sind die Verbote reichlich selektiv: Die Vergewaltigung von Frauen und Kindern ist z.B. nicht verboten.
Fazit: Die 10G sind weder toll noch irgendwie besonders
Also: Die Zehn Gebote sind eine Sammlung aus kruder Selbstrechtfertigung eines eifersüchtigen und jähzornigen Gottes und schemenhafter, bronzezeitlichen Rechtsnormen. Sie sind keinesfalls einzigartig oder auch nur besonders treffend formuliert. Moralisch sind sie auch eher fragwürdig: Sie drohen Abweichlern mit Sippenhaft, Sklaverei wird gut geheißen, und Frauen auf eine Ebene mit Vieh gestellt; Vergewaltigung und Völkermord wurden irgendwie vergessen. Konfuzius hatte um die gleiche Zeit eine deutlich knackigere Formulierung gefunden: “Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an.”